Christian Kryl für Stern

Gerne möchte ich mit Euch meinen offenen Brief teilen, der heute im Stern erschienen ist. Das begleitende Interview findet Ihr ebenfalls in der aktuellen Ausgabe (Heft Nr. 25 vom 14. Juni 2018). Hast Du eine eigene Geschichte? Dann teile sie mit dem Hashtag #abOUTtime, oder teile gerne meinen Brief.

“Ich bin schwul.

 Manche von Ihnen werden jetzt sagen: „Und wo ist jetzt die Neuigkeit?“ Andere von Ihnen werden es nicht gewusst oder „geahnt“ haben.

 Vielleicht werden Sie sich fragen: Muss man das heutzutage überhaupt noch erwähnen? Ich finde: ja. Klar, es ist in den letzten Jahren in Sachen Akzeptanz viel passiert, dennoch sind wir von Normalität in vielen Bereichen weit entfernt.

 Diese Zeilen sollen nicht um mein persönliches Outing gehen, sondern darüber, wie wichtig ich es finde, Leute, die anders sind als man selbst, zu verstehen und Andersartigkeit als selbstverständlich zu sehen. Wer hat die Norm erfunden und warum sind uns Menschen, die anders sind als wir selbst, fremd oder gar unheimlich?

 Mit 15 wurde ich in der Schule so sehr gemobbt, dass ich weder in den Schulferien das Freibad oder Geburtstage besuchte. Ich wurde geschubst, bekam das Bein gestellt und wurde einmal so lange im Schwimmbad unter Wasser gehalten, dass ich dachte, ich ertrinke. Oft weinte ich abends vor dem Einschlafen, erzählte meinen Eltern vom Geschehenen und wurde getröstet, ‚ich solle drüber stehen, ich sei ja nicht schwul’. Ich werfe das meinen Eltern nicht vor, sicher waren sie selber überfordert damit, mich zu beruhigen.

 Mein Leben änderte sich, als ich ein Stipendium für ein Auslandsjahr an einer amerikanischen High School bekam. Hier öffnete sich eine ganz neue Welt für mich. Ich konnte plötzlich all meine Interessen ausleben, für die es in Deutschland zu meiner Schulzeit keine Möglichkeit gab. Ich schrieb für die Schülerzeitung, sang im Chor, spielte Theater. Ich war der vollends integrierte deutsche Austauschschüler, der sich endlich gefunden hatte.

 Warum hole ich so weit aus? Um zu erklären, warum ich so lange mit diesem Brief gewartet habe. Gerade habe ich ein Buch eines Psychologen gelesen, der darüber spricht, warum schwule Männer ihr ganzes Leben mit einer Art Scham durchs Leben gehen. Natürlich gibt es Mädchen, die mit Autos spielen. Schlimm? Selten. Jungs, die sich allerdings gerne als Prinzessin verkleiden und sich eine Puppe zum Geburtstag wünschen (ich war 10 und meine Puppe hieß Yvonne), bekommen zu spüren, dass sie „anders“ sind. Weiter geht’s im Sportunterricht, wo man der Letzte ist, der in die Mannschaft gewählt wird, weil man nicht gut mit Bällen umgehen kann. Bitte verstehen Sie das nicht als Klischee – es war mein Leben und ist auch das Leben vieler Männer, mit denen ich mich über ihre Sexualität und ihr Aufwachsen unterhalten habe. Diese Scham, anders und nicht genug zu sein, begleitet mich bis heute.

 Obwohl alle meine Freunde wissen, dass ich auf Männer stehe und ich auch bei meinen Arbeitskollegen kein Geheimnis daraus mache, muss ich doch sagen, dass ich immer wieder mit meiner Homosexualität konfrontiert werde. Homophobe Sprüche werden immer wieder gemacht, oft ohne Hintergedanken. „Boah, ist das schwul“ – diesen Satz habe ich von Menschen gehört, die mir nahe sind. Sie kennen die Bedeutung: „Boah, ist das schwul! „Bedeutet: „Boah, ist das ätzend“. Schwule sind also ätzend? „Schwul“ ist an Schulen immer noch das meist verbreitete Schimpfwort.

 Ich muss wahrscheinlich nicht erklären, dass Homosexualität keine Entscheidung ist. Wir werden hetero- oder eben homosexuell geboren. Wir entscheiden als Homosexuelle lediglich, wie wir damit umgehen. Ich gestehe: Ich wurde in den letzten Jahren immer wieder von Angst getrieben: Was bedeutet es für mich, mich zu outen? Als Moderator wurde ich dazu ermutigt, in der Öffentlichkeit zu mir zu stehen. Anders lief es für mich als Schauspieler. Meine erste Rolle spielte ich als Herzensbrecher in der ARD-Serie „Sternenfänger“. In meiner Heimat von der Mutter einer Freundin darauf angesprochen, sagte sie mir, sie hätte die Serie gemocht, aber die Liebesszenen hätte sie mir nicht abgenommen. Warum? „Naja…“ druckste sie herum. Aaah! Weil ich schwul bin!

Heterosexuelle dürfen Schwule spielen (und bekommen dafür sogar Preise!), aber Schwule können keine Heteros spielen? Wie verhält es sich dann mit der Rolle eines Mörders? Muss man für einen Krimi schon jemanden umgebracht haben, um den Mörder glaubhaft darstellen zu können? Sie verstehen den Unsinn…

 Das erste Mal wollte ich mich vor vier Jahren öffentlich outen, habe dann aber kalte Füße bekommen. Ich mag meine Privatsphäre und weiß, dass ich sie mit diesen Zeilen weiter öffne. Sie können glauben, dass mir, entschuldigen Sie, mein Arsch auf Grundeis gehen wird, sobald diese Ausgabe in den Druck geht. Mit den Konsequenzen werde ich leben müssen.  Aber ich möchte mich hier nicht wichtig nehmen. Viel wichtiger ist mir in den letzten Jahren allerdings geworden, was mein Outing für andere Menschen bedeuten kann.

 Bei meiner ersten Begegnung mit einem schwulen Pärchen hatte ich erst mit 15! Ich sah zwei händchenhaltende Männer in Gießen, in der Nähe des Dorfes, in dem ich aufwuchs, und folgte ihnen über eine Stunde durch die Stadt. Aufregend war das! Immerhin hatte ich noch nie live Homosexuelle gesehen.

Ein Jahr nach meiner Zeit in Kalifornien besuchte ich in den Sommerferien meine Gastfamilie erneut. Einige aus meinem Theaterprogramm hatten sich mittlerweile geoutet und waren „out and proud“. 1998 in meiner hessischen Heimat undenkbar.

Bei der Ankunft am Frankfurter Flughafen nach meinem Urlaub entschied ich, mich meiner besten Freundin anzuvertrauen. Einige Monate später outete ich mich bei meinen Eltern und weiteren Freunden. Es machte die Runde an meiner Schule. Ich war der Exot. Der Schulleiter zitierte mich in sein Büro und bot mir seine Hilfe an, sollte ich reden wollen. Auch wenn ich es heute als freundliche Geste von ihm empfinde, so fühlte ich mich damals durch diese Aussage noch mehr ausgegrenzt.

 Je älter ich werde, desto mehr lerne ich über mich und den Kampf, den ich wahrscheinlich mein Leben lang mit mir führen werde. Es ist nicht nur mein persönlicher Kampf, sondern der Kampf aller, die sich fühlen, als würden sie nicht dazu gehören.

Ich werde dieses Jahr 40. Und ich will mich nicht mehr verstecken. „I am who I am“ – that’s right! Ich definiere mich nicht über meine Sexualität, sie ist ein Teil von mir, für den ich mich nicht mehr schämen möchte. Aber wen ich liebe hat immer noch eine starke soziale Bedeutung. Werde ich mich komisch fühlen, wenn beim Bäcker hinter meinem Rücken getuschelt wird: „Ist das nicht der schwule Moderator?“ Bestimmt.

Viel wichtiger ist es mir aber, mich nicht mehr schlecht zu fühlen, und anderen Männern und Frauen, die homosexuell oder transgender sind, Mut zu machen, zu sich zu stehen. Ich möchte nicht belehren, aber ich muss appellieren: Seien Sie offen! Offen zu Menschen, die anders sind als Sie. Einzigartigkeit macht uns aus. Und macht das unser Leben nicht spannend?”

 

***

 

To all my non German-speaking friends: I would like to share my open letter with you about my coming out which was published in Stern magazine today (Issue No. 25, June 14, 2018). In this current issue, you can also find an interview with me about taking that step. If you want to share your own story, please do so using the hashtag #abOUTtime, or feel free to share my letter.

“I am gay.

Some of you might say: „What’s new?“ Others might not have known or haven’t „suspected“ it.

Maybe you’ll ask yourself: Does one still need to mention my sexuality in 2018? I think: yes! Sure, in the past years a lot happened concerning acceptance, but we are still far away from normal.

This letter shouldn’t be about my personal coming out but about how important it is to understand people that are different than us and taking being different for granted.

When I was 15 I was bullied so badly that I wouldn’t go to the outdoor pool or birthday parties during our summer holidays. I was pushed, shoved, and dunked under water once so badly that I thought I would drown. There were many nights where I cried myself to sleep. I told my parents about what happened and they tried calming me down: „Hey, rise above it, you know you are not gay.“ I am not blaming my parents for it, I am sure it was a lot for them to handle as well at the time.

My life changed when I got a scholarship for a high school exchange year in California. A new world presented itself. All of a sudden I was able to explore interests I wasn’t able to at school in Germany. I wrote for the school paper, sang in the choir, and joined drama club. I was the fully integrated German exchange student who finally found himself.

Why am I telling you all of this? To explain to you why I have been waiting with this letter for so long. I just finished reading a book (The Velvet Rage) by a psychologist who talks about why gay men walk around with shame for most of their lives. Of course, there are girls playing with cars. Bad? Hardly. Boys, on the other hand, who like to dress up like a princess or who want a doll for their birthday (I was 10 and my doll was called Yvonne) get the feeling early on that they are „different“. Up next: Physical Education, where I was voted last on the team, because I wasn’t good playing ball. Don’t take this as a stereotypical cliché – it was my life and is the life of many other gay men with whom I have talked about their sexuality and growing up. This shame of being different and of not being enough has been with me until today.

Although all of my friends know that I am into guys and although I have been out to my work collegues, I do have to say that I have been repeatedly confronted with my homosexuality. Homophobic remarks are made over and over again without really thinking about it. „That’s so gay!“ – a sentence I have heard again and again, even from people close to me. You know what that means: „That’s so gay!“ equals „That’s lame!“ So, gays are lame? „Gay“ is still one of the most used swear words at schools.

I assume I don’t have to explain to you that being homosexual isn’t a choice. We’re born hetero- or homosexual. We only choose how to deal with it. I admit: I was scared in the past years. What does me coming out mean? As a TV presenter I was encouraged to be myself. My experiences as an actor were different. My first role was a heart throb in the teen drama series „Sternenfänger“, a German version of Dawson’s Creek. In my home town, a mother of a close friend told me she liked the show but she didn’t buy the love scenes I was in. “Why?”, I asked. „Well…,“ she said – Aaah, okay, sure. Because I am gay.
Heterosexuals are allowed to play gays (and get awards for it) but homosexuals can’t play straight characters? How is it when playing a murderer? Do I have to kill someone to play a murderer believably on a crime show? You get the nonsense…

The first time I thought about coming out was four years ago but I chickened out. I do appreciate my privacy and know that I am opening it with these lines. You can bet that I’ll be scared shitless when this magazine goes into print. I will live with the consequences. But I don’t want to take myself too seriously. It’s more important to me what my coming out can mean for others.

My first encounter with a gay couple was at age 15. I saw two guys holding hands in the city of Giessen close to the village I grew up in and followed them for an hour out of excitement! I had never seen homosexuals live!
A year after my high school exchange I visited my host parents in California again during summer break. A few people from our theater program had come out by then and were „out and proud“. Unheard of in my hometown in 1998.
After my vacation I decided right then and there at the airport to come out to my best (girl)friend. A few months later I came out to my parents and friends. News spread quickly at school, I was exotic. The principal invited me to his office and offered help in case I needed to talk. Surely, it was meant as a nice gesture but by that I felt even more sidelined.

The older I get, the more I learn about myself and the fight that I will probably fight with myself for the rest of my life. It is not my personal fight but the fight of every individual feeling like they don’t belong.
I am turning 40 this year. And I don’t want to hide anymore. I don’t define myself through my sexuality. It’s a part of me that I don’t want to feel ashamed for anymore. Who I love still has a strong social significance. Will it feel weird when people are going to whisper behind my back „Isn’t that that gay tv host?“ when queuing up at the supermarket? Surely.
But more important to me is not feeling bad anymore and to encourage other men and women who are homosexual or transgender to stand up for themselves. I don’t want to lecture but I need to appeal to you: Be open! Open to people that are different to you. Uniqueness is what makes us special. And isn’t that what makes life exciting?”